Ich liege in einer Hängematte. Mash der Hostelhund hat sich zu mir unter meinen warmen Poncho gekuschelt und vergräbt sein Gesicht. Er ist müde von den vielen Wanderungen über saftige Wiesen, auf erloschene Vulkane und durch verwunschene Wälder. Nachmittags ruht er sich immer aus, bevor er dann abends vor dem Kamin am offenen Feuer schlummert. Er macht es nicht viel anders als ich. Von meiner Hängematte aus blicke ich über ein grünes Tal in dem Kühe, Lamas und Alpacas grasen, auf den 5.897 Meter hohen Cotopaxi, den schönsten Berg der Welt. Er hat eine perfekte Kegelform. Unten Weideland, in der Mitte rot leuchtendes Vulkangestein und rings um den Krater eine Schneekuppe, die wie Zuckerwatte aussieht. Links und rechts erheben sich etliche weitere über 5.000 Meter hohe Vulkane in den ecuadorianischen Himmel. Nicht umsonst wird diese Gegend Straße der Vulkane genannt. Und während die Hummeln neben mir die farbenfrohen Blumen im prächtigen Garten bestäuben, denke ich schon an die Milliarden von Sternen, die heute Nacht wieder über mir erstrahlen werden, weil der Himmel so klar ist.
Dieser abgelegene Ort hat das geschafft, was sonst so schwierig scheint auf Reisen. Er hat mich verzaubert.
Über ein halbes Jahr reisen wir nun durch Südamerika. Wir haben weiße, rote und blaue Lagunen mit rosa Flamingos gesehen. Pinguine sind zwischen unseren Füßen herumgelaufen und Wale haben unser Boot angestupst. Wir sind auf Gletschern gewandert und durch Silberminen gekrochen. Wir haben auf den reissenden Flüssen Argentiniens gepaddelt und an wunderbaren weißen Stränden in Uruguay gebadet. Wir haben alberne Fotos in der größten Salzwüste unseres Planeten geschossen und sind auf der südlichsten Meerenge gesegelt. Wir haben in der trockensten Wüste Bier getrunken und die heiligsten Orte der Inkas besucht. Wir haben uns mit dem Sandboard die höchsten Dünen runtergestürzt und sind am tiefsten Canyon vorbeigefahren. Wir haben die Städte Südamerikas erkundet und sind durch atemberaubende Mondlandschaften gefahren. Wir haben faszinierende Menschen getroffen und tolle Freundschaften geschlossen.
All diese wunderbaren Dinge scheinen irgendwann normal. Noch eine Lagune. Schon wieder ein schneebedeckter Vulkan. Allzu schnell vergisst man die Schönheit des Augenblicks zu erkennen. Man verlernt das Besondere zu sehen. Entzaubert Reisen? Nein. Reisen erst eröffnet die Möglichkeit, von unserer Welt verzaubert zu werden. Man muss nur ab und zu einen Moment lang inne halten. Einen Moment die Augen schließen und die Gedanken schweifen lassen, bis alles um einen herum stillsteht. Wenn man dann die Augen wieder öffnet und die Zuckerwatte auf dem Cotopaxi sieht, dann geht der Zauber weiter. Und manchmal braucht man dafür eine Hängematte.
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